Die letzten zwei Süßen
Das alte Café hatte gerade geöffnet, alle Tische waren hübsch geschmückt, mit Spitzendeckchen verziert, die Milchkännchen und die Zuckerdosen, kleine reich verzierte Kunstwerke standen exakt in der jeweiligen Mitte der Tische. Jeder Tisch hatte vier Stühle. Die Sonne ließ heute auf sich warten, aber egal, die großen Kronleuchter schmetterten ihr Licht in jede Ecke des Kaffee, so dass die meist betagten Gäste nicht aus Versehen zu viel Zucker in den Kaffee taten, welcher klassisch in Kännchen an den Tisch gebracht wurde.
Herbert hatte sich schick gemacht. Das war lange nicht mehr geschehen, wahrscheinlich seit seine Frau vor drei Jahren gestorben war. Für wen auch. Helga kam mit Rüschenbluse im dezenten Rosaton, mit grauem Rock und Jacke, die Haare frisch vom Friseur, leicht blau schimmernd. Er war den ganzen Morgen so aufgeregt gewesen, dass er schon eine halbe Stunde vor Öffnung des Café Hofgarten vor der Tür stand. Und auch an Helga ging die Vorfreude auf das Date nicht spurlos vorbei. Sie war in die falsche Bahn gestiegen, deshalb etwas spät dran. Da saß er nun, im schwarzen Anzug, etwas overdressed und dem Blumenstrauß in der Hand. „Soll ich sie in eine Vase stellen?“, hatte die Kellnerin gefragt. Er sah auf die Eingangstür und reagierte nicht, er hörte auch schon etwas schwer. Dann bemerkte er die Kellnerin. „Nein danke, ich erwarte noch jemand.“.
Dann öffnete sich die Tür und sie trat ein, sein Herz klopfte, gut dass er heute früh keinen Kaffee getrunken hatte, sonst wäre das zuviel gewesen. Auch ihre Beine zitterten etwas, aber das war durch das Gegenlicht nicht zu erkennen. Das ist sie also. Da sitzt er also.
Sie ging auf ihn zum, er erhob sich. Der Stuhl rutschte zurück und quietschte etwas zu laut. Dann standen sie sich gegenüber, beide strahlend, wie die Kronleuchter. „Guten Tag, Helga. Ich habe mir erlaubt dir das mitzubringen. Das waren doch deine Lieblingsblumen, oder?“ Er hielt den Strauß mit ausgestrecktem entgegen, so dass er ihr fast im Gesicht hing. Nein, dass waren nicht ihre Lieblingsblumen. „Oh, schön, dass du dir das gemerkt hast.“ Das Zuhören würde sie im später noch beibringen, sie wusste ja auch von seinem Hörproblemen. Er schob ihr den Stuhl bei Seite, sie setzte sich, er schob. Dann setzte er sich, der Stuhl quietschte erneut. „Tja, das sind wir nun.“, sagte er. „Und, wie bist du hier hergekommen?“ fragte sie. Dann kurze , aber nicht unangenehme Stille.
„Ich bin zu Fuß, also fast immer.“ sagte er, rieb sich unterm Tisch das rechte Knie. „Brauche einfach die Bewegung. Du sagtest ja am Telefon, dass du gern wanderst.“ Kurzes Reiben des linken Knies. Hat er sich also doch was behalten. Aber warum gerade das, fragte sie sich. So viel draussen war sie in letzter Zeit nicht. Das sagt man halt so dahin. Aber das wird er schon merken.
Der Weg hierher war verdammt weit für ihn gewesen, aber er wollte einen guten Eindruck machen, sich nicht gleich als Couchpotato outen. Mit seiner Frau war er regelmäßig im Harz gewandert, oft kurze Strecken von Raststätte zu Raststätte, immer etwas Leckeres zwischendurch, als Wegstärkung. Sie teilten die Vorliebe für Käsekuchen, hatten alle Varianten versucht unterwegs, oder selbst gebacken zu Hause. Das kleine Bäuchlein wuchs im Laufe ihrer Wanderungen, mehr als er befürchtete. Irgendwie komisch, dachte er, da bewegt man sich schon und dann nimmt man zu. Gisela, sein Frau lachte immer, wenn er sich darüber beschwerte. Sie hatte nie Probleme mit dem Gewicht. Gertenschlank, egal was und wieviel sie aß. Da war es leicht zu lachen, schwer für ihn das auszuhalten.Helga dagegen sah man an, dass sie gerne aß. Das machte sie für ihn noch sympathischer.
„Wollen wir bestellen?“ „Gern“, sagte sie. „Ich habe totalen Appetit auf etwas Süßes.“ Ihre Augen leuchteten auf und reflektierten das Licht der kurz auftauchenden Sonne. Ihm wurde warm, er schaute schnell verlegen weg. Erstmal bedeckt halten, nicht gleich mit Allem rausplautzen, vielleicht fand sie ihn ja langweilig, da will man nicht gleich alles von sich preisgeben. Sie hatte sich wirklich auf dieses Treffen gefreut, auf ihn, aber halt auch auf die herrlichen Kreationen, die es hier gab, für die das Café berühmt war. Einmal in der Woche war sie mindestens hier, stand erst vorn an der Auslage, mit den vielen verschiedenen verführerischen Kreationen, war dann kurz in Trance.
Sie erlaubte sich immer ein Stück und ein Kännchen Kaffee, aus Disziplin, sie fürchtete sonst die Kontrolle über sich und ihr Leben zu verlieren und Kontrolle war ihr wichtig. Das hatte in ihrem Leben schon oft zu Problemen mit anderen Menschen, besonders mit Partnern geführt. Deshalb war es auch nie zu einer Hochzeit gekommen. Ihren Partner viel es schwer, sich mindestens auf Augenhöhe mit ihr zu verständigen. De Männer ihrer Generation war noch von der sogenannten Alten Schule, das Rollenbild noch aus dem 19. Jahrhundert.
Sag mal, hast du mit deiner Frau immer zusammen gewohnt? Diese plötzliche Frage überraschte ihn, er verschluckte sich und begann stark zu husten, sein Gesicht lief rot an? Sie musste lachen, diese Art Reaktion kannte sie von Männern. Manche wurden auch einfach bleich im Gesicht und verdrehten ihre Augen, sichtlich nach einer Art von Reaktion bemüht, aber so verblüfft, dass erstmal kein Gedanke zu fassen war.
Das amüsierte sie, war auch gleich ein Test, ob es überhaupt Sinn machte, sich mit dem Gegenüber weiter zu beschäftigen. Meist machte es den nicht und so sparte sie Zeit und Energie.Er verstand nicht genau, was sie wollte. Natürlich hatte er mit seiner Frau zusammen gewohnt. Warum auch nicht. Klar gingen sie sich im Laufe der Jahre auch mal auf die Nerven, hatte er manchmal daran gedacht auszuziehen, wenigstens für eine Weile. Aber das Ertragen von Schwierigkeiten gehörte, nach seiner Meinung halt zu einer ernsten Beziehung, auch wenns weh tat. Und das tat es mehr , als einem lieb war.
Ja, sagte er. Wir haben uns kennengelernt, waren dann auch bald verlobt und haben nach einem Jahr geheiratet und sind dann auch zusammen gezogen. Ohne Heirat bekam man ja meist auch keine Wohnung, jedenfalls keine neue. Eher er einen klaren Gedanken finden konnte, stand sie auf und ging nach, denn nur dort konnte man die Köstlichkeiten bestellen, im Gegensatz zum Kaffee. Er folgte ihr und dachte auch dem Weg immer noch über die Frage, besser gesagt über den Sinn nach. Vielleicht war ja gar keine Antwort nötig. Sie ließ sich Zeit, fragte bei jedem süßen Kunstwerk nach, was alles an Zutaten verwendet wurde. Er stand daneben und wußte schon, was er nehmen würde, denn er nahm immer das Gleiche, die mit Nugat gefüllte Sahnerolle. Immer nur eine. Einmal, ganz am Anfang hatte er eine zweite gegessen, da war ihm danach den ganzen tag so schlecht gewesen, dass er nur noch auf dem Sofa lag. Er war gewarnt und machte ungern den gleichen Fehler zweimal.
„Was soll es den nun sein, junge Frau“, fragte die Angestellte. Sie kannte Helga, wußte von ihrer Vorliebe, sehr entspannt auszuwählen und ahnte wann sie sie stoppen musste, um die anderen Gäste nicht zu vergraulen. Spätestens, wenn Helga begann, zum zweiten Mal altbekannte Törtchenrezepte zu erfragen, war Schluß. „Ich nehme einen Mohrenkopf“, so hießen sie hier immer noch, das waren die Besitzer stur. „Und sie junger Mann? Ich nehme die Sahnerolle. Sehr gern“, sagte die Frau hinterm Tresen und begann die beiden Teller zu belegen. Alle anderen Gäste atmeten merklich erleichtert aus. Helga war versorgt, fürs erste.
Am Tisch angekommen, wollte er auf die Frage antworten, aber sie schien abgelenkt zu sein, jedenfalls sah sie aus dem Fenster, die Sonne war gerade wieder durch die Wolken gebrochen und beschien die Hochstrasse und die dort vorbeifahrenden Autos, Lastkraftwagen und Motorräder. Die Kellnerin kam und stellte währenddessen die Sahnerolle und den Mohrenkopf auf den Tisch. „Ein Kännchen, wie immer?“ „ Ja, wie immer.“ „Und sie junger Mann?, Auch, wie immer?“, er nickte.
„Wie oft bist du eigentlich hier? Ich habe dich glaube ich noch nie hier gesehen.“, fragte sie. „Ein, bis zweimal in der Woche.“ Er hatte sie schon oft gesehen und beobachtet, nie aber den Mut gefunden, sie anzusprechen. Meist war sie auch nicht allein da, die Männer mit denen sie sich traf, schienen sie für ihn noch unerreichbarer zu machen. Eigentlich war er nicht so unscheinbar, wie sie ihm gerade einredete, hatte durchaus sowas wie Charisma, war beliebt und hatte auch kluge Gedanken zu vielen Themen. Er ließ sich beim Kennlernen aber gern Zeit, hörte den Anderen mehr zu, als viel von sich zu erzählen. Das ließ ihn für mache Menschen unnahbar erscheinen, dass fand er garnicht schlimm, war irgendwie auch ein Schutz. „Ich hab dich schon oft gesehen. Und ja, ich habe mit meiner Frau zusammen gewohnt.“ Er schaute ihr lange ins Gesicht, gespannt, was nun kommen würde. Die Art, wie er es sagte, fand sie interessant genug, um sich weiter mit ihm zu unterhalten.
Die Tür zum Café öffnete sich in diesem Moment und ein heller Sonnenstrahl flutete den Raum, während die letzten zwei Kreationen von einer älteren Dame mit Hund gekauft wurden.